mitwohn_schaft
unerwartete bekanntschaften und emotionale verbindungen in einer deprimierten, leeren wohnung. eine kurzgeschichte basierend auf einer wahren gegebenheit.
mein tagesverlauf war oftmals gekennzeichnet durch gezieltes nichtstun. es wären viele dinge zu machen gewesen, die erfüllend hätten wirken können. nur fühlten sich alle einbindungen in zwischenmenschliches an wie eine marmorplatte auf meinem kopf. so richtig schwer und belastend. da war es eher angebracht, dass ich mich ein- und wegschließe. trotzdem war ich immer noch dem, was im eingeschlossensein passiert, hilflos ausgeliefert. von mio_blue.
prolog
die wohnung in der ich lebe ist leer. nicht leer wie in “da ist nichts drin”, sonder leer wie in “da ist keine bedeutung”. eine decke, ein fußboden, ein paar wände, ein paar türen und einige möbel. und diese wandelnde biomasse darin. das bin ich. manchmal liege ich, manchmal sitze ich, manchmal stehe ich. ich bin das einzige objekt, das sich bewegt, gelenkt durch chemische prozesse, durch endorphine, hormone, stimuli die eine reaktion hervorrufen, die wiederum stiumuli sind für eine weitere reaktion.
mit anderen worten: ich habe einen freien willen.
die leere ist genau das. diese unerträgliche stille die immer da ist, wenn keine stimuli da sind, die mir das gefühl gibt, dass ich mit wänden spreche oder manchmal gegen sie laufe. wenn die leere überhand nimmt, denkt sie sich die schrägsten mittel aus, um an der macht zu bleiben. alles was kommt, ist dann eine störung des leeregefühls. unschön und schön gleichzeitig. belastend und befreiend gleichzeitig. “geh weg” ist das mantra der leere.
“ich hasse es allein zu sein, also lass mich in ruhe.”
stille.
“du bist allein, also tu irgendwas dagegen”
mehr stille.
“wir haben alle zeit der welt, also beeil dich”
unerträgliche stille.
teil 1
facettenaugen
ich weiß nicht wie es passiert ist, aber plötzlich ist sie da. diese fliege. dieses summende, kleine, nervtötende ding. sie fliegt durch die küche, setzt sich kurz hin um verschnaufen, staubige essenreste aufzusaugen, dann fliegt sie weiter ins wohnzimmer, macht kreise um die deckenlampe.
in mir steigt der zorn über dieses unerwünschte subjekt. ich starre an die decke, an der die fliege klebt. unbewusst über ihre existenz und abgekapselt von allem was ich wahrnehme. bei ihrer nächsten verschnaufpause nehme ich sie mir vor. mein blick schweift gen zeitungsständer. ich muss mich ihr ganz langsam nähern, am besten von hinten, um kein aufsehen zu erregen. dann werde ich die zusammen gerollte zeitung vorsichtig über ihr kleines köpfchen halten und mit einem kurzen klatsch ist die dann hinüber und ich bin frei von der plage. frei von der last, dieses geschöpf aushalten zu müssen. dieses zickzackförmige gesurre über meinem kopf raubt mir den letzten nerv. diese wohnung ist leer und so soll es auch bleiben.
ich starre immer noch an die decke, benommen von dem genialen plan. die fliege starrt zurück. hat sie etwas gerochen? hat sie mich durchschaut? bevor ich weiterdenken kann sitzt die fliege auf meiner stirn. ich rühre mich nicht. sie beginnt auf meiner haut zu krabbeln. sie hebt ab, landet auf meiner rechten hand. ich starre ihr tief in die augen und fühle ihre beinchen auf meiner haut. sie beginnt sich zu putzen. sie scheint völlig gelassen zu sein und unbeeindruckt von meinem teuflichen plan.
ich schüttle meine hand; die fliege kommt zurück auf meine hand. ich wehre sie nochmal ab; sie kommt zurück. sie fühlt sich wohl und ist unvoreingenommen von dieser hand, die sie gerade noch hinrichten wollte.
ich seufze, stehe auf und öffne das fenster. kalte luft strömt an meinen füßen vorbei. diese wohnung ist leer. und sie ist gefüllt durch die präsenz der fliege. mein spiegel. eine weitere biomasse, die sich bewegt. ein zorniger dorn im auge, der weh tut. raus jetzt. raus oder tot. das angebot steht. die fliege sitzt auf meiner schulter. und bleibt sitzen.
herbstblätter fallen von den bäumen. der winter kündigt sich an. es ist zu kalt draußen für die fliege. sie wird erfrieren. ich schließe das fenster und setze mich.
was für ein dilemma.
⁂
zwei tage sind vergangen nach dem einzug der fliege. jedes mal als ich zurück in die wohnung kam, hat sie am eingang auf mich gewartet. beim essen saß sie neben mir und hat mir beim schmatzen zugehört. am morgen hat sie mich sanft geweckt mit ihrem surren und ihren filigranen beinchen auf meinem gesicht. als sie müde war hat sich sich auf meine hand gesetzt und ist eingeschlafen. in all ihrer nackten verwundbarkeit. jede kleinste ungeschickte bewegung hätte ihr aus bedeutet. sie hat sich mir voll und ganz hingegeben, wie es kaum ein anderes wesen getan hat. wir sind uns verbunden. das offene fenster hat sie nie interessiert. meine hand war immer interessanter.
ich gehe zum eingang und ziehe mir die jacke über. die fliege folgt mir. ich öffne die türe auf der sie sitzt, woraufhin sie einige male in der luft vor mir kreist und sich auf den türrahmen setzt, als wäre sie sich nicht sicher ob sie drinnen bleiben oder weiterziehen möchte. in mir steigen horrorszenarien auf. was, wenn die fliege nach draußen fliegt? wird sie sich zurechtfinden? wird sie genug zu essen haben? was, wenn sie in einer anderen wohnung unterschlupf findet mit menschen die voreingenommen sind? ich habe angst, dass meine wohnung dann wieder leer ist. so still und drückend leer.
ich gehe nach draußen. die fliege auch. mir kommen die tränen während ich sie mit meinem blick verfolge, wie sie ins große, weite treppenhaus fliegt. welche abenteuer sie dort wohl erwarten wird. welche entdeckungen sie wohl machen wird. ob sie unsere zweisamkeit wohl vermissen wird.
diese wohnung muss für dieses geschöpf so viele eindrücke hinterlassen haben. es ist geprägt von den wänden, der decke, dem boden, den möbeln. von meinem ein- und ausgehen. von meinem körpergeruch. von dem geschmack des fettes auf meinem gesicht.
ich ziehe die türe hinter mir zu.
teil 2
blutspende
ich komme nach hause, setze mich hin und starre an die decke. dort ist ein schwarzer fleck. der fleck fliegt weg und setzt sich auf die wand. ich stehe auf und inspiziere was da vor sich geht. der fleck fliegt weiter und summt schrill.
aha. eine mücke.
mücken sind wie fliegen, aber von ihnen geht eine gefahr aus. sie summen dermaßen berohlich wenn sie an meinem ohr vorbeifliegen, dass ich meine hilflosigkeit spüre. die fliege hat etwas nettes, aber eine mücke ist hinterlistig, räuberisch und parasitär. sie stibitzt ohne das einverständnis anderer blut und hinterlässt nichts als verwüstung in form von roten erhebungen auf der haut die jucken wie verrückt.
ich erinnere mich an die warmen sommertage, an denen ich bis spät in die nacht das fenster geöffnet hatte. als ich dann im bett lag und las, surrte es an meinem ohr vorbei. genervt stand ich dann auf, um die übeltäterin zu überführen. alle lichter an, mit einer zusammengerollten zeitung und adrenalin bis zum anschlag ausgerüstet stand ich regungslos da und lauschte. samuraiend, bereit für die obrigkeit im kampf das eigene leben zu lassen. ich lauschte ganz genau, um auszumachen wo dieser lästige schwarze fleck sein unwesen treibt. und dachte mir: erst wenn der fleck ein fleck ist, der auch an der wand kleben bleibt, und kein schrilles surren mehr zu befürchten ist, dann kann die obrigkeit endlich ruhig schlafen. aber bis dahin heißt es, zu kämpfen. ich darf nicht enttäuschen.
was habe ich in diesen sommertagen gekämpft. als die mücke gefallen war, musste ich feststellen, das es nicht die letzte war, denn das surren ging weiter als ich wieder im bett war. die obrigkeit war unzufrieden, also musste ich nochmals aufstehen und mich mit tränen der schmach in den augen in kampfposition begeben.
ich will nicht mehr kämpfen.
dankbar über den besuch einerseits und angeekelt von dem miesen charakter der mücke andererseits stehe ich in meiner wohnung wie ein großes fragezeichen. in meiner panik öffne ich das fenster. die bäume haben in der kälte fast all ihr laub verloren. die mücke rührt sich nicht. ich mich auch nicht.
als ich schlafen gehe, treffe ich vorkehrungen. die mücke darf hier schlafen, aber nicht im selben raum wie ich. ich lösche alle lichter außer in der küche, die taghell ist. die mücke folgt dem lockruf. dankbar gehe ich in die küche, lösche das licht und schließe die tür. geschafft. zusammenleben möglich gemacht dank trennung durch einen anti-insektoiden schutzwall.
⁂
am nächsten morgen wecken mich personen aus der wohnung nebenan. sie gröhlen. ich denke an das ruhige wesen, das bei mir wohnt. ich öffne die küchentür und sehe es an der wand sitzen. es hat hoffentlich genug zu essen gehabt.
ich mache kaffee und rolle eine graszigarette. eine viertelstunde später liege ich im wohnzimmer und inspiziere die wohnungsdecke. die mücke gesellt sich dazu und setzt sich auf meine rechte hand. reflexartig schüttle ich meine hand um das parasitäre wesen von mir zu halten. die mücke lässt nicht locker.
ich lasse mich fallen. soll sie doch machen was sie will. sie hatte sicher den ganzen tag nichts zwischen die zähne bekommen. sie muss ausgehungert sein.
stich. weißes blitzen, das von der rechten hand ausgeht. der schmerz fährt mir duch den körper. den arm entlang, über meine schulter, alle muskeln spannen sich an. ich atme tief und stöhne. ich bin ausgeliefert. ich will nicht mehr kämpfen. ein braunes kribbeln macht sich bemerkbar an der stelle an der die mücke sitzt. sie ist festgewachsen. sie ist in ihrem element. und ich sehe zu. hilflos und voller vertrauen. die mücke dominiert mich. ich bin ihre sklavin. ich erlaube ihr, sich zu nehmen, was sie braucht. sie erlaubt mir, zu existieren.
ich schließe die augen. lasse alles so sein wie es ist. nach einigen minuten höre ich die mücke wie sie davonfliegt. in bekifften zickzackbewegungen richtung küche. ich liege benommen da; ich fühle mich angenehm ausgenutzt. leidenschaftlich gepeinigt. kaum habe ich in meinem leben einem wesen so viel freiheit über meinen körper gelassen. dass es tun durfte, was es möchte. ohne dass ich kontrolliere. ohne dass ich angst habe, was gleich passieren wird. sondern ich habe mich geöffnet für alles was passiert und war voller neugier darauf, was passieren kann.
die mücke ist nicht mehr da. ich höre nichts, sehe nichts. auch über die nächsten tage: nichts. war es eine überdosis thc? ich mache mir sorgen. ich mache mir vorwürfe. oder war es ohnehin an der zeit für sie?
nichts.
epilog
die wohnung in der ich lebe ist leer. nicht leer wie in “da ist nichts drin”, sonder leer wie in “da ist niemand”. so viel passiert und es passiert doch nichts. es ist nicht erwähnenswert; es sind nur ein paar gefühle, die kommen und gehen. ein paar wesen, die mich besuchen. die auch kommen und gehen. es ist unerträglich voll, gedrängt voll; und ich weiß nicht wo ich anfangen soll. ob ich überhaupt anfangen will‽
es hat keine bedeutung, weil es unendlich viel bedeutung hat.
die wohnungsdecke ist immer noch weiß. nichts verändert sich, weil sich alles mit unendlicher geschwindigkeit verändert.
es irritiert mich. ich laufe immer noch gegen die eigenen vier wände.
es darf nicht sein, weil es so ist.
weil es so ist, wie es nicht ist.
weil alles nicht das ist, was es ist.
und doch ist es wie es ist.
leer.
einzigartig leer.
artikelfoto von
endprocess83 (deviantart profile page)
originalbild hier.
bearbeitung von mio mit Affinity Photo.
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