Ahornpropellersamen

…liegen seit einiger Zeit hier vorm Haus verteilt rum. Einige haben angefangen zu keimen, und so hab ich mir gedacht: Ich nehm die mit rein und mach die innen Blumentopf rein. Klappt manchmal, manchmal nicht.

Mutter gibt mir Blumentopf und Erde in die Handmit den Worten “Ahorn ist ziemlich anspruchslos, die kommen auf jeden Fall”. Und ich pfanze so random 5-6 Samen_Keime ein. Nach einigen Tagen im Blumentopf hören sie auf zu wachsen, trotz regemäßiger Benetzung.

Wieder im Garten, sehe ich, dass es auf dem Rasen angefangen hatte, zu spießen. Dutzende von Ahörnern, Dutzende! Dabei ist eins, das den Keim in die Erde gesteckt und sich lang gestreckt hat. Dabei hat der Ahorn den Propeller des Samens wie einen Hut auf und keimt in die Erde hinein. Ich Schussel habe Ahörner falsch herum eingepflanzt: Der Keim möchte in die Erde wuchern. Erst dann geht das Wachstum weiter. Es muss sichergestellt werden, dass Nahrung vorhanden ist. Facepalm-Gefühl.

Ich wende die Keime im Blumentopf Richtung Erde und bedecke die Enden mit Erde. Ich fühle mich unangenehmerweise sehr sorry für mein ungeprüftes Vorurteil bzw für meine empirische Fehlleistung gegenüber der mutmaßlichen Richtig-Herumheit der Ahornpropellersamen relativ zur Erde. Noch am selben Tag sprießen die Ahörner weiter. Einer macht genau dasselbe wie der im Garten: Er erhebt sich und trägt eine Zipfelmütze slash Zylinder. Dann geschieht das krasseste was ich ever in meinem Botanikleben erlebte habe: Der Ahorn wirft den Zylinder ab und zum Vorschein kommen zusammenrollterweise zwei zarte Blätter.

Wow, bin ich nicht geil, jetzt wo ich den richtigen Ahorn-Dreh raus hab? Eine richtige Geilstelle*, dieser Blumentopf!?

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*Geilstelle, die. Substantiv.

Worttrennung: Geil·stel·le, Plural: Geil·stel·len.

Aussprache:
IPA: [ˈɡaɪ̯lˌʃtɛlə]
Hörbeispiele: Geilstelle

Bedeutungen:
[1] Wiesenflecken, der besonders dicht und grün bewachsen ist

Herkunft:
Determinativkompositum aus dem Adjektiv geil und dem Substantiv Stelle

Beispiele:
[1] „Die Standweide vermittelt also auch optisch den Eindruck intensiver Bewirtschaftung, während bei der heute verbreiteten Rotationsweide (Aufteilung in Parzellen, die nur jeweils eine bis wenige Wochen beweidet werden) die Geilstellen durch zusätzliche Mahd außerhalb der Weidephasen schneller abgebaut werden und kaum noch in Erscheinung treten.“
[2] Geilstellen können besonders in der Nähe von Kotstellen entstehen, weil hier die Weide vom Vieh in der Regel nicht weiter abgefressen wird.

Übersetzungen:
Schwedisch: frodig ängsmark

[Wiktionary-Eintrag “Geilstelle”, Stand: 11.07.2023]

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Aber guckt man nach draußen auf den Rasen, so sind as we are speaking immer noch Dutzende Ahörner am keimen, alle in verschiedenen Stadien, und alle haben sie die letzten Tage unter einer Schneedecke verbracht. Wirklich anspruchlos und ziemlich unkaputtbar. Die Ahörner schmeicheln keineswegs, wenn sie im Blumentopf wuchern. Es ist ihnen nämlich schlichtweg egal, von wem sie großgezogen werden und ob eine Großzucht überhaupt geschieht oder nicht, oder ob die großziehende Entität existiert oder nicht. Sie wuchern zu niemandes Belustigung und zu niemandes Leidwesen.

Was jedoch sehr geil ist, ist, den Ahörnern beim Wuchern zusehen zu können, und wie sie sich nach eigenem Gusto literally entfalten. Etwas zusammengewickeltes entwickelt sich eben gerne. Sicherlich würden sie auch anderswo wachsen, ohne meine Mithilfe und ohne meine Einmischung. Aber sie hier zu haben, am Fenster, und sie täglich beobachten zu können, ist mir so etwas wie eine Ehre. Ich werde demütig vor dem Lebenskreislauf. Mit dem ist nämlich genauso wenig zu verhandeln, wie mit der untergehenden Sonne an einem lauen Spätfrühlingstag.

So ein Ahornsamen fühlt, wo nahrhafte Erde ist und wo nicht, und darauf basierend reagiert er: Ahornpropellersamenkeime verkörpern demnach eine Form von Bewusstsein. Nüchtern betrachtet sind wir voneinander nicht so unterschiedlich; ich und Du und die Ahornpropellersamenkeime. Um zu gedeihen, brauchen wir alle Nahrung. Um im Geiste zu gedeihen, um die Gedankenwelt zur Reife zu führen, brauchen wir auch Nahrung. Wir fühlen, wo nahrhafte Erde ist und richten unser tägliches, profanes Ahorn- und Menschenleben dahingehend aus.

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Ahornpropellersamen machen sich keine Gedanken und treffen keine Entscheidungen. Meine Güte, die Gedanken! Wo kommen die überhaupt her? Was mach ich mit denen? Wie soll ich mich denn Entscheiden, wenn ich doch gar nicht weiß, wozu das gut sein soll. Ahornpropellersamen lehren mich, dass die Gedankenwelt ein Add-On ist, völlig unnötig um das Leben im Kern zu leben, zuweilen sogar vollkommmen unpraktisch, da Gedanken Gedanken hinterherjagen und das tatsächlich Erlebte verschleiern wie dicke Wolken den klaren Himmel.

Ich sehe, wie mühelos diese verflixten Ahörner völlig anspruchslos wuchern und werde ehrlich neidisch: Wie machen die das? Worauf verlassen die sich? Warum sind die so verdammt ruhig bei der Sache? Wo gibt’s das Rezept dazu?

Fakt ist nur, dass sie da etwas sehr geiles schaffen und machen, wovon sie selbst nicht den geringsten Schimmer haben. Dafür gibt es auch keinen besonderen Grund, keine Intention und vor allem – und das ist das gruseligste: Keinen Anfang!!

Jez ma ehrlich, seit wann gibt es Ahornsamen? Gibt’s da einen Zeitpunkt, an dem die plötzlich da warn? Wenn ja: Was gabs davor? Und dádavor? Und dadádavor? Scheint ganz so, als seien die Ahörner zusammen mit dem Urnall entstanden. Niemand kann mir diese Fragen in meiner Lebenszeit abschließend beantworten. Und, UM GOTTES WILLEN, diese Ahörner im Blumentopf scheint noch nicht einmal diese gewichtige Frage zu bekümmern!!!

Ich gehe hinaus um zu wandern. Dort sehe ich weitere geil-wachsende Urknallwunder und bestaune sie. Die Urknallwunder herzzerreißen mich wie ein Blitzeinschlag vom Scheitel bis zu den Sohlen, kernzerreißen die Erde und geistzerreißen das Universum, das sich nicht kümmert um Zerrissensein und Nicht-Zerrissensein. Das Universum fließt im Kreis durch das Leben hindurch, und das Leben fließt im Kreis durch das Universum.

Photos sind selbstgeschossen und unterliegen Creative Commons BY-SA.
Speziellen Dank an Johannes Marx für die Aufnahme und das Mixen des Gesprechs.
Grattis på födelsedagen, din gammal gubbe.